Sonntag, 31. Dezember 2017

Angehöriger des Elternkreises Ingelheim bekämpft Symptome des Tourette-Sydroms mit Cannabis-Tropfen und wird drogenabhängig


INGELHEIM - Das Tourette-Syndrom ist eine Erkrankung, die sogenannte „Tics“ verursacht. Das können Muskelzuckungen ebenso sein wie unwillkürliche Laute. In der Außenwelt stoßen die Betroffenen oft auf Irritation und Unverständnis. Die „Tics“ können aber auch noch andere gravierende Folgen haben, nämlich dass sich die Betroffenen verletzen – beispielsweise wenn der Kopf unkontrolliert irgendwo anschlägt. Die Behandlung des Tourette-Syndroms ist schwierig, eine Standard-Medikation gibt es nicht. Für Eltern betroffener Kinder bedeutet das häufig eine Odyssee. So war es auch im Falle der Mutter, die sich seit einigen Jahren im „Elternkreis Ingelheim“ engagiert, eine Selbsthilfegruppe für Mütter und Väter drogenabhängiger Kinder.
„Unser Sohn wurde immer mit starken Medikamenten behandelt“, berichtet die Mutter. Verschiedene Präparate wurden ausprobiert, darunter Medikamenten-Cocktails, von denen einige massive Nebenwirkungen hatten. „Er war sehr schwer einzustellen“, erinnert sie sich. Einmal sei es bei ihrem Sohn fast zu einem Herzstillstand gekommen. Mit elf Jahren wurde wieder etwas Neues ausprobiert. Der Junge bekam Cannabistropfen, die ihm deutlich besser halfen. „Er selbst wusste nicht, was drin war“, sagt seine Mutter. „Er hat nur gemerkt, dass er nicht mehr so tickt.“

Eltern standen vor Gewissensfrage
Das ging einige Jahre gut, bis den Eltern auffiel, dass mit ihrem Kind etwas nicht stimmt. Darauf angesprochen, beichtete der Schüler, dass er Drogen ausprobiert hatte – gewissermaßen als Medizin. Durch die Drogen hatte sich die Symptomatik so verbessert, dass er plötzlich ein vergleichsweise „normales Leben“ führen konnte. „Ich würde alles dafür tun, dass dieser Schluckauf im Kopf aufhört“, habe der Sohn gesagt. Die Eltern standen nun vor einer Gewissensfrage: Sollten sie ihrem wohlbehütet aufgewachsenen Kind etwas wegnehmen, was ihm hilft, um dadurch Schlimmeres zu verhindern?

Eine Frage, die bei sogenannten „Doppeldiagnosen“ keine Seltenheit ist, also wenn die Kinder Drogen nehmen, um die Symptome einer anderen Erkrankung zu lindern. Nicht nur eine Mutter im „Elternkreis Ingelheim“ kennt das Phänomen, es gibt mehrere Eltern. Bei aller Unterschiedlichkeit der Diagnosen haben die betroffenen Kinder eines gemeinsam: „Sie sind viel gefährdeter“, sagt die Mutter, „denn die Probleme, die sie mitbringen, lassen sie schneller zu Drogen greifen“. Die Kinder versuchten, auf diese Weise „die Defizite wegzuputzen“. So war das auch in ihrer Familie. „Unser Sohn war immer sehr zurückgezogen und schüchtern“, blickt die Mutter zurück. Er konnte sich nicht konzentrieren, ließ sich leicht ablenken und lebte irgendwie in seiner eigenen Welt. Nach der Diagnose ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) entschieden sich die Eltern erst mal gegen Medikamente und versuchten es mit Lerntherapie, was auch recht gut funktionierte.
Doch als sich die Symptome verstärkten, rieten die Ärzte zu Medikamenten, die freilich auch nicht besser halfen. Mit 15 begann der Sohn zu kiffen. Die Drogen hatten für ihn einen positiven Effekt, die Symptome ließen nach. Plötzlich war er nicht mehr der schüchterne, ängstliche Junge, der sich am liebsten verkriechen würde, sondern fühlte sich gut und anerkannt. Mit der Zeit aber rutschte der Schüler immer mehr in die Abhängigkeit hinein; er probierte alles aus, von LSD bis Ecstasy.
Mütter rufen zur Wachsamkeit auf
„Die Drogen verändern einen Menschen total“, sagen beide Mütter. „Den Jungen, den wir hatten, gibt es nicht mehr.“ Daher appellieren sie an andere Eltern, wachsam zu sein. Ein großes Problem sehen die Vertreterinnen des Elternkreises darin, dass es Kindern heutzutage sehr leicht gemacht wird, an Drogen zu kommen – sei es am Bahnhof oder auf dem Schulhof. Selbst in kleinen Gemeinden gebe es Plätze, wo Drogen verteilt und konsumiert würden. „Cannabiskonsum“, sagen beide, „wird oft verharmlost“. Das Phänomen aber sollte man keinesfalls auf die leichte Schulter nehmen. Denn am Ende kann jeder Joint eine Einstiegsdroge sein, die zu fatalen Folgen führt.

http://www.allgemeine-zeitung.de/lokales/ingelheim/ingelheim/angehoeriger-des-elternkreises-ingelheim-bekaempft-symptome-des-tourette-sydroms-mit-cannabis-tropfen-und-wird-drogenabhaengig_18419970.htm

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