Mittwoch, 22. November 2017

Behandlung mit Cannabis: Wiesbadener Schmerzpatient kämpft um Übernahme der Kosten


WIESBADEN - Seine Krankheit sieht man Timo K. auf den ersten Blick nicht an. Erst im Laufe des Gesprächs wird klar, dass irgendetwas nicht stimmt. Er wird unruhig, sein Blick verdüstert sich, er rutscht auf seinem Stuhl hin und her, um eine erträgliche Sitzposition zu finden. „Geht schon“, sagt er, wenn man ihn danach fragt. „Aber sobald Sie gehen, muss ich mich hinlegen.“ Er leidet unter dem Fibromyalgiesyndrom (FMS), das zu Schmerzen im gesamten Körper führen kann. Doch dem 39-jährigen Wiesbadener macht nicht nur seine Krankheit zu schaffen – er liegt auch im Rechtsstreit mit seiner Krankenkasse, die seine Therapie nicht zahlen will.
Bei Timo K. sind alle Sehnen, Muskeln, Gelenke und Weichteile von dem FMS betroffen. Die damit verbundenen Schmerzen beschreibt er so: „Ich habe Muskelschmerzen wie bei einem Muskelfaserriss nur ohne Riss, eine Bänderdehnung nur ohne Dehnung und Gelenkschmerzen nur ohne Arthrose.“ Darüber hinaus verursache FMS bei ihm Magenkrämpfe und Übelkeit.

Seit 2015 ist er krankgeschrieben
Im April 2015 tauchten die Symptome zum ersten Mal auf. Seitdem ist er krankgeschrieben und hat viele Schmerzmittel ausprobiert. Keines habe geholfen, sagt er. Dafür leide er unter den Nebenwirkungen: Übelkeit bis zum Erbrechen, jeden Tag. Das habe ihn viel Kraft gekostet. Seine Krankenkasse, die AOK, habe ihm eine multimodale Behandlung empfohlen, bestehend aus medikamentöser, physiotherapeutischer und psychologischer Therapie. „Aber ohne wirksames Schmerzmittel ist an eine Bewegungstherapie nicht zu denken“, erläutert Timo K. das Dilemma. Schon mit dem Hund vor die Tür zu gehen, sei für ihn eine Herausforderung.
Auf der Suche nach dem passenden Schmerzmittel schluckt er schließlich ein Medikament, das THC enthält und aus der Cannabispflanze gewonnen wird. „Drei Monate lang habe ich es relativ gut vertragen, und es hat mir die Schmerzen genommen“, erinnert sich Timo K. „Doch dann tauchten die Nebenwirkungen wieder auf.“

"Beschwerden haben sich extrem reduziert"
So leicht lässt der 39-Jährige aber nicht locker. Über Bekannte besorgt er sich illegal Cannabis, um es zu rauchen. „Ich wollte testen, ob es mir hilft“, so Timo K. Der Effekt hat ihn überzeugt: „Meine Magen-Darm-Beschwerden haben sich extrem reduziert, und ich konnte endlich wieder am Leben teilnehmen.“ Für den legalen Kauf bedarf es einer Ausnahmegenehmigung und der Empfehlung eines Arztes.
Die Genehmigung erhält er im Juli 2016. Sein Hausarzt schreibt ihm dafür ein Attest, das dieser Zeitung vorliegt. Darin steht: „Zur Behandlung der chronischen Erkrankung gibt es keine Therapiealternativen.“ Aus ärztlicher Sicht sei die Genehmigung unabdingbar. Für Timo K. ist die Genehmigung der Weg aus der Illegalität: „Ich will kein Kiffer sein“, betont er oder als drogenabhängig gelten. Mit der Genehmigung ist sein Problem aber trotzdem noch nicht gelöst. Denn obwohl nicht nur sein Hausarzt, sondern auch seine Schmerzmedizinerin die Behandlung empfehlen, weigere sich seine Krankenkasse, die AOK, die Kosten zu übernehmen. Begründung: Die Voraussetzungen seien nicht nachvollziehbar erfüllt. Auch die neue Cannabisverordnung vom März dieses Jahres (siehe Kasten), die die Kassen zur Kostenübernahme verpflichtet, habe an dieser Haltung nichts geändert, so Timo K.

AOK will sich nicht zu dem konkreten Fall äußern
Für den Wiesbadener ist die Entscheidung unverständlich. „Ich möchte einfach nur haben, was mir zusteht, denn für Patienten wie mich wurde das neue Gesetz gemacht. Ich will wieder arbeiten, mich weiterentwickeln. Das fehlt mir, macht mich mürbe. Ich kann nicht mit 39 Jahren meine Tage auf dem Sofa verbringen.“ Gegen die Entscheidung der Krankenkasse klage er inzwischen vor dem Sozialgericht. Mit Blick auf eben dieses Verfahren will sich die AOK gegenüber dieser Zeitung nicht zu dem Fall äußern.
Übergangsweise besorgt sich Timo K. das Cannabis auf eigene Kosten. Allerdings nicht mehr offiziell in der Apotheke. „Denn durch das neue Gesetz haben sich die dortigen Preise verdoppelt. Mit meinen 600 Euro Frührente kann ich das einfach nicht zahlen.“ So gehen seine Lebensgefährtin und er an das Ersparte und zurück in die Illegalität: 4000 Euro haben sie in drei Monaten für sein Cannabis ausgegeben. Die Menge reiche nicht für eine Therapie, aber dafür, um durch den Tag zu kommen. „Wir können nicht sämtliche Rücklagen für mich aufbrauchen.“
Eigentlich möchte Timo K. das Cannabis nicht rauchen: „Mit einem Joint fühle ich mich wie ein Assi.“ Möglich sei, es stattdessen mit einem Verdampfer zu inhalieren. „Aber das Gerät ist teuer und wird natürlich nicht von meiner Krankenkasse gezahlt.“ Auch an diesem Morgen hat Timo K. schon Cannabis konsumiert. Ohne, sagt er, hätte er nicht zum Gespräch am Tisch sitzen können.

http://www.wiesbadener-kurier.de/lokales/wiesbaden/nachrichten-wiesbaden/behandlung-mit-cannabis-wiesbadener-schmerzpatient-kaempft-um-uebernahme-der-kosten_18335594.htm

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